Die schönste Frau von Nazilli

Mesut, was so viel wie der Glückliche bedeutet, lebte in einer Kleinstadt namens Nazilli, das an der türkischen Ägäis am Nordufer des Großen Mäanders liegt. Er war 27 Jahre alt geworden und beschloss nun, zu heiraten. Als er dies seinem Vater mitteilte, ließ dieser die Nachricht in seinem Umfeld verbreiten. Man sollte Ausschau nach einer hübschen und ehrbaren Frau halten. 

Mesut arbeitete als Angestellter bei Sümerbank, damals einer der größten Textilfirmen der Türkei. Er war verantwortlich für den Druck von Handtüchern. 

Er fuhr jeden Morgen mit der Tuckerbahn von Nazilli den so genannten Gidi-Gidi-Weg zur nahen gelegenen Textilfabrik. So stand er – wie immer – fünf Tage die Woche am Bahnhof. Es war gerade sechs Uhr morgens und die Sonne war im Begriff, sich über die Bergkette hoch zu schlängeln. Es war Hochsommer des Jahres 1956. Früh morgens genoss Mesut die frische Luft und die leichte Brise, die er auf seiner Haut spürte. Er drehte sein kantiges und gebräuntes Gesicht der Sonne zu. Seine groben Locken fielen ihm auf die Stirn, die er sich aus dem Gesicht strich. In dieser Region waren die Sommer tagsüber sehr heiß, Mesut fürchtete einen dieser Tage. Es schien ein gewöhnlicher Morgen zu werden. Mesut dachte über seinen Entschluss nach, zu heiraten. Es waren schon sechs Monate vergangen, dass er diese Entscheidung getroffen hatte und bislang hatte er noch keine geeignete Frau gefunden, obwohl ihm einige heiratswillige Kandidatinnen vorgestellt wurden. Da fuhr die Tuckerbahn mit quietschenden Bremsen in den Bahnhof ein und riss Mesut aus seinen Gedanken. Es kam Bewegung in die Menschenmassen auf dem Bahnsteig.

Aussteigende Gäste drängten sich durch die wartenden Massen, welche wiederum versuchten, möglichst schnell in den Zug einzusteigen. Auch Mesut drängte sich in den Waggon und sah sich um, ob er ein bekanntes Gesicht sehen konnte. Da erblickte er sie plötzlich. Eine Schönheit, wie er sie noch nie gesehen hatte, wie eine aus Marmor gemeißelte Göttin. Große braune Augen, langes dunkles gelocktes Haar, ein wunderbares und unübersehbares Grübchen an der linken Wange. Welche Eleganz, die diese junge Frau ausstrahlte. Mesut stockte der Atem. Er versuchte, sich ihr durch die Menge hindurchzunähern, doch bevor er es schaffte, stieg sie auch schon die nächste Haltestelle aus. Die Bahn fuhr weiter und Mesut schaute ihr noch lange hinterher, bis sie um die Ecke verschwand. Den ganzen Tag kreisten seine Gedanken um diese Frau. Er fragte sich, ob er sie am nächsten Morgen wiedersehen würde. Die Zeit wollte nicht vergehen. 

Als er dann am nächsten Morgen aufgeregt in die Bahn stieg, suchte sein Blick nach ihr. Doch er konnte sie nirgends entdecken. Auch den nächsten Morgen und die darauffolgenden konnte er sie nicht sehen. Er erzählte seiner Familie und seinen Freunden ständig von ihr. Er beschrieb sie bis ins kleinste Detail, doch niemand kannte sie. Er verlor seinen Appetit, hatte schlaflose Nächte. Die Eltern machten sich Sorgen und wollten ihm neue Kandidatinnen vorstellen, doch er lehnte ab. Er wollte zwar heiraten, aber nur sie. Die Suche nach ihr führte zu keinem Ergebnis. Und die Suche nach heiratswilligen Kandidatinnen wurde eingestellt.

Erst nach einem Jahr gab er die Hoffnung auf, ihr jemals wieder zu begegnen. 

Da schneite eines Abends eine Nachbarin herein. Sie meinte, sie hätte eine Frau in heiratsfähigem Alter und aus gutem Hause für ihn gefunden. Mesut wollte nicht. Er lehnte ab. Doch die Eltern und die Kupplerin redeten mit Engelszungen auf ihn ein, sie sei schließlich eine Schönheit. Sie schwärmten in höchsten Tönen von ihr. So ließ sich Mesut breitschlagen, dieses letzte Mal auf Brautschau zu gehen. 

Er machte sich auf zu ihrem Haus mit seiner Mutter, seinem Vater und der Kupplerin. Sie wurden freundlich willkommen geheißen und gut bewirtet. Dann kam der Augenblick, als die angehende Braut mit dem Kaffee hereinkam. Mesut konnte seinen Augen nicht glauben. Es war die junge Frau aus der Tuckerbahn, die schönste Frau Nazillis. Er schluckte und schwitzte, er hätte fast vor Glück geweint. Ihre Schönheit war unbeschreiblich.  Mesuts Vater wartete auf ein Zeichen von ihm. Dann endlich kneifte er seinen Vater und flüsterte ihm zu, dass er sie heiraten wolle.

Mesuts Vater hielt eine Rede über den Sinn ihres Besuches und hielt um ihre Hand an. Daraufhin erklärte der Vater der jungen Frau, dass er Mesut nicht kenne, sie sich das wohl überlegen müssten und ihnen in ein paar Tagen eine Nachricht schicken würden. Sie wurden freundlich verabschiedet. Mesut war überglücklich, doch sein Glück war beschattet von den Worten ihres Vaters. Warum nur bat ihr Vater um Zeit, dachte er sich. „Was, wenn man ihm ihre Hand nicht gäbe?“, das würde er nicht überleben, folgerte er. Er musste sie heiraten, sonst wäre er ein Leben lang unglücklich, fürchtete er. Die nächsten Tage waren für ihn die reinste Qual, er hatte das Gefühl, auf heißen Kohlen zu sitzen, die Zeit verstrich sehr langsam. 

In der Zwischenzeit holte der Vater der beworbenen Frau Erkundigungen über Mesut und seine Familie ein. Er fragte im Männercafé in Mesuts Straße nach und bekam von den alten Männern, die Backgammon spielten, zu hören, dass er ein ehrlicher, fleißiger und ehrbarer Mann sei. Über die Familie wurde berichtet, dass sie gottesfürchtig und anständig wären, niemandem was zu Leide täten. Das, was er hörte, gefiel ihm. 

Er ließ über die Kupplerin Mesuts Familie die Nachricht zukommen, dass er durchaus gewillt sei, Mesut die Hand seiner Tochter zu übergeben. 

Mesuts Freude war riesig, als er das hörte. Er küsste die alte Kupplerin, hob sie in die Lüfte und lief auf die Straße, um es allen zu erzählen. Er konnte sein Glück kaum fassen, er würde seine verloren geglaubte Traumfrau heiraten.

Es gab ein großes Fest, drei Tage lang wurde die Hochzeit gefeiert. Die schönste Frau Nazillis an seiner Seite, führte Mesut ein glückliches Leben.