Die junge Frau steht auf der alten Galatabrücke vor dem Eminönü-Platz und beobachtet die Menschen, wie sie nach Feierabend hastig einkaufen. Es liegt ein winterlicher Dunst über Istanbul. Es ist kalt. Die Sonne ist gerade im Begriff unter zu gehen. Der Bosporus hat eine sehr widersprüchliche Wirkung auf die Frau. Er strahlt eine gewaltige Kraft, aber auf eine subtile Art und Weise auch Ruhe aus. Der Anblick überwältigt sie und lässt Erinnerungen in ihr hochkommen. Erst vor einer Woche schaffte sie es, sich aus einer einjährigen sehr zermürbenden Beziehung zu einem Mann zu befreien. Die Familie legte Geld beisammen und ermöglichte ihr ein Flugticket für einen Kurzurlaub nach Istanbul, um zu verhindern, dass sie erneut zu ihrem Peiniger zurückkehrte. So nahm sie das Angebot gerne an, um auf andere Gedanken zu kommen und sich von ihm zu distanzieren.
Nun ist sie in Istanbul. Ganz allein mit ihrer schmerzhaften Einsamkeit, in der Stadt der Träume, der vielen Kulturen und Kämpfe. Bei näherem Hinhören kann man die Stadt gar sprechen hören. Es kommt ihr vor, als würden die Gebäude, die Moscheen, die Menschen und der Bosporus Geschichten von vergangenen Zeiten erzählen. Wer die Geschichten nicht hört, kann sie riechen. Es riecht nach altem Gestein und nach Gewürzen, die vom anliegenden ägyptischen Markt herüberwehen.
Sie streift durch die Stadt und vergisst sogar zu essen. Den Hunger spürt sie erst, als sie in der Altstadt vor einem kleinen Teehaus steht, in dem eine Frau im Schaufenster ein türkisches Gebäck mit diversen Füllungen, Gözleme genannt, zubereitet. Sie liebt Gözleme. So geht sie ins Teehaus und setzt sich an einen der kleinen Holztische und bestellt sofort eine Gözleme mit Kartoffelfüllung. Während sie sich aufwärmt, die angenehme und nette Atmosphäre in sich aufsaugend, bemerkt sie einen gutaussehenden jungen Mann am Nachbartisch. Er ist ebenfalls alleine, schlürft an seinem Tee und schaut nett zu ihr herüber. Er ist groß und hat leuchtend blaue Augen. Er trägt einen orangenen Pullover, was seinem Gesicht eine gewisse Wärme verleiht. Kaum wünscht sich die junge Frau innerlich, dass er sich zu ihr gesellt, da spricht er sie auch schon an und fragt sie in englischer Sprache, ob er sich zu ihr setzen dürfe. Sie bejaht und freut sich.
Es entwickelt sich rasch eine vertraute Verbindung zwischen ihnen. Er erzählt ihr, dass er aus Venedig stamme und dort als Anwalt tätig sei und sich mit einem Freund eine Woche in Istanbul ausruhen wolle. Sie berichtet ihm daraufhin vom Sinn und Zweck ihrer Reise.
Sie erzählen sich Geschichten aus der Heimat, von ihren Beziehungen und letztlich auch von ihrem Alleinsein. Auch er leidet am Alleinsein, seitdem er von seiner Freundin kürzlich verlassen wurde. Während sie da sitzen und erzählen, scheint die Welt um sie herum still zu stehen.
Vor Mitternacht machen sie sich auf und suchen eine Schischa-Bar auf, in der sie einen Platz auf einem großen Divan wählen, von wo aus man durch große Fenster den leichten Schneefall beobachten kann. Bei gedimmten Licht herrscht in der Bar eine Atmosphäre, wie in alten Palästen des osmanischen Reiches. Sie machen es sich bequem und erzählen weiter. Irgendwann halten sie inne. Sie sind überwältigt, dass sich zwei Fremde, die sich erst seit einigen Stunden kennen, so viel zu erzählen haben. Es fühlt sich alles echt, richtig und vertraut an. Als würden sie sich bereits seit Jahren kennen.
Später in der Nacht, als sie sich auf dem Divan in den Armen liegen, überkommt die Frau plötzlich das Gefühl, dass in seiner Gegenwart innerlich etwas mit ihr passiert. Sie kann die Gefühle und Impulse schwer in Worte fassen, dann versucht sie es: „I feel how something old goes and something new comes“.
Zu ihrer Überraschung dreht er sich zu ihr und äußert das Gleiche.
Sie sind tief berührt und fassungslos. Obwohl sie nur in einer Schischa-Bar sitzen, hat sich ihre Welt um einige Meter verrückt. Sie einigen sich darauf, dass die Stadt der großen Mythen und Wunder dafür verantwortlich ist, dass sie ihr Leben berührt und ihre Herzen geheilt hat.
Da die junge Frau nicht ausreichend Geld für das Taxi hat, leiht er ihr etwas Geld und sie vereinbaren, dass sie sich am nächsten Tag vor dem Teehaus treffen. Daheim angekommen, fühlt sich die junge Frau unbeschreiblich wohl und ihr ist einfach warm ums Herz. Sie kann es kaum erwarten ihn am nächsten Tag erneut zu sehen.
So fährt sie am nächsten Morgen aufs Neue in die Istanbuler-Altstadt und steigt an der Sultan-Ahmed-Moschee aus. Sie beginnt, den Berg hochzulaufen. Während dieser wenigen Schritte, die sie zum Teehaus macht, merkt sie, wie sie ihn bereits aus der Ferne riechen kann. Den Wohlgeruch, ein Gemisch aus angenehmen Parfum und seinem Eigengeruch, spürt sie intensiv.
Am Teehaus angekommen, begrüßen sie sich sehr innig. Sie übergibt ihm das Geld fürs Taxi. Da er in wenigen Stunden abreisen muss, bleibt ihnen nicht viel Zeit zum Verabschieden. Sie berichtet gerade davon, welch angenehme Nacht sie verbracht hat, als er schließlich nach ihrer Adresse fragt. Sie schweigt erst, bevor sie ein zögerliches „Nein Giovanni“ herausbringt. „Die Welt wirkt nur groß, schrumpft aber, wenn wir uns noch einmal begegnen sollen. Wir haben ein so schönes Geschenk erhalten, ein Wunder, das ich nicht durch das alltägliche Leben kaputt machen möchte. Ich werde es in meinem Herzen aufbewahren und behüten“, sagt sie. Er wird ganz blass und schluckt. Es bleibt ihm daraufhin nichts zu erwidern. Die tiefe Trauer über den endgültigen Abschied setzt beiden zu, sie schaffen es, ihre Tränen fürs Erste zu unterdrücken. Er küsst sie auf die Wange, dreht sich zögerlich um und geht. Sie schaut ihm noch lange hinterher. Nun kann sie ihre Tränen nicht mehr unterdrücken. Sie gewährt ihnen freien Lauf.