Schicksal ?

1957 war Melike gerade siebzehn Jahre alt geworden. Sie war ein mittelgroßes, blondes und schlankes Mädchen mit blauen Augen und wohnte in Söke, im Westen der Türkei. Sie wurde von vielen jungen Männern im Umkreis begehrt. Viele warben um ihre Gunst, immer wieder wurde um ihre Hand angehalten, doch so eitel wie sie war, fand sie immer einen Grund, um abzulehnen. Dann kam ein junger Mann, gekleidet in Anzug und Krawatte. Er war so elegant, drückte sich sehr gehoben aus, bewegte sich geschmeidig und war sehr zuvorkommend. Er war Angestellter bei der Stadt und brachte ihr schöne Blumen und Schokolade mit. Dieser junge Mann gefiel Melike sehr. Er war der Mann ihrer Träume. Ein Gentleman, wie sie sich ihn immer gewünscht hatte. Ihn wollte sie heiraten, doch bald kamen Gerüchte auf, dass er an Trinksucht leide. Die Eltern sprachen sich gegen den Anwärter aus und ihr blieben die Hände gebunden. Sie musste ihn ziehen lassen, doch trauerte sie ihm noch lange nach.

Ein paar weitere Ablehnungen später hatte ihr Vater die Nase voll. Er kündigte an, dass sie den Nächsten heiraten müsste. Sie bangte um ihre Zukunft.

So kam auch schon der nächste Anwärter. Er verguckte sich auf Anhieb in sie. Ilyas, ein kleiner dunkler Mann mittleren Alters. Er war geblendet von ihrer Schönheit. Melikes Vater und Mutter kannten ihn bereits aus der Nachbarschaft, er galt als zuverlässig und ehrenhaft. Sein Vater war ein ehemaliger Schreiner. Er bekam das rechte Bein nach einem Arbeitsunfall amputiert und konnte seitdem nicht mehr arbeiten. Die Schreinerei übernahm Ilyas, der das Geschäft mehr schlecht als recht führte. 

Melike war entsetzt, als sie ihn zum ersten Mal sah. Einen so dunklen Mann hatte sie noch nie gesehen und er sah so alt aus. Sie bat ihre Großmutter und ihre Mutter um Rettung, doch im Hause der Yigits hatte der Vater das letzte Wort.

So hielt Ilyas um ihre Hand an. Sie wollte nicht, doch der Vater übergab Ilyas die Hand seiner Tochter. Sie sträubte sich, versuchte ihm unsympathisch zu erscheinen, sie kleidete sich unpassend, trug Damenfeinstrümpfe mit Löchern und redete kein Wort mit ihm. Doch Ilyas war entschlossen, sie zu heiraten und ihr Vater beschloss alsbald auch schon den Hochzeitstermin. 

Melike weinte bitterlich, war untröstlich, zeigte letzte Versuche der Ehe zu entkommen, indem sie Freunde und Verwandte um Unterstützung bat, doch wurde sie von ihrem Vater geohrfeigt und aufgefordert, ihm zu vertrauen. Ilyas sei schließlich ein guter und rechtschaffener Mann. Bei einem seiner Besuche fasste Ilyas all seinen Mut zusammen und zog Melike in einem unbeobachteten Moment in eines der leeren Zimmer, schnappte und küsste sie auf die Lippen. Melike war außer sich, sie dachte, sie hätte damit ihre Unschuld verloren und war nun gezwungen, ihn zu heiraten.

So heiratete sie ihn. Ilyas kümmerte sich rührend um sie. Er brachte ihr immer Blumen von den Feldern mit und wollte ihr Herz erobern. Doch es kam ihr so vor, als würden seine Hände und Füße stinken. Obwohl sie sich vor ihm ekelte, musste sie Annäherungen seitens Ilyas gewähren. Sie weinte viel, versuchte sich dennoch in ihrer neuen Familie mit Schwiegereltern, Schwager und Schwägerin einzufinden. Ein autoritärer Schwiegervater, der die Familienmitglieder rumkommandierte, war schon schwierig zu ertragen, als sie feststellen musste, dass ihr Mann sein Gehalt immer bei seinem Vater vorlegte. Das knappe Einkommen, was Ilyas vorwies, musste für die ganze Familie ausreichen. Da blieb Ilyas und Melike nicht viel übrig. Sie unternahm mehrere Versuche, die Ehe zu beenden und lief zu ihren Eltern. 

Ihre Mutter bot ihr Trost und steckte ihr insgeheim etwas Geld zu, doch der Vater schickte sie wieder heim oder die Schwiegermutter kam mit der jungen Schwägerin, um sie wieder heimzuholen. 

Das auszuhalten war schwierig, doch nach der Geburt ihrer zwei Kinder wurde es noch schwieriger. Ein Mann, der unter der Fuchtel des Vaters stand, und die Armut setzten ihr immer mehr zu. So hörte sie aus ihrem Umfeld, dass immer mehr Männer nach Deutschland gingen, um Geld zu verdienen. „Die Deutschen brauchen Arbeitskräfte, dort sind die Straßen aus Gold“, wurde rumerzählt.  Sie spürte, dass das ein Ausweg für sie sein konnte. So mutig wie sie war, bewarb sie sich und wurde gesundheitlichen Untersuchungen unterzogen. Sie erfüllte die Auflagen. Ihr Mann wollte nicht. Er wollte seine Familie nicht alleine lassen. Als jedoch seine Freunde meinten, er könne gehörnt werden, wenn er seine Frau alleine wegschickt, entschloss er sich, mitzufahren. Das war ihr gar nicht recht. Sie wollte schließlich aus dieser Ehe fliehen. 

So brachten sie ihre Kinder bei den Eltern unter und machten sich im Herbst 1963 mit dem Zug auf nach Deutschland. 

Eine neue Welt tat sich auf. Sie wurden, nachdem sie herzlich am Bahnhof in Köln begrüßt wurden, in eine Kleinstadt namens Overath gebracht. Eine neue Sprache, Verständigungsprobleme und lauter Fremde. Alles wirkte befremdlich auf Melike, bis sie ein weiteres türkisches Ehepaar kennenlernte. Da sie bereits über Deutschkenntnisse verfügten, halfen sie Melike bei notwendigen Belangen des alltäglichen Lebens, wie zum Beispiel beim Einkaufen. Sie bekamen eine kleine Wohnung mit Garten am Rande der Stadt. Und Ilyas kam sofort als Drahtzieher in einer Firma unter. Er fand sich schnell ein, lief mit seinem Duden herum, um die neue Beschäftigung zu erlernen. Melike fand ebenso Arbeit in der Manufaktur der Schokoladenfabrik Stollwerk in Köln. Ohne Sprachkenntnisse musste sie ganz alleine einen weiten Weg mit der Bahn zurücklegen, es war täglich eine neue Herausforderung. Sie verfuhr sich manchmal und kam im Dunkeln heim. Doch sie schaffte es. Sie fühlte sich immer sicherer. Obwohl Ilyas jeden Monat Geld an seine Familie schickte, konnten sie sich zwei Häuser in Söke und ein Ferienhaus am Mittelmeer, in Kusadasi, leisten. Sie waren nicht mehr arm. Sie hatten sogar einen kleinen VW Käfer gekauft. Und Melike machte den Führerschein. Sie bekam ihr drittes Kind und fand als Schneiderin Arbeit in Overath, wo sie ihr Kind mit auf die Arbeit nehmen konnte. Zeitgleich holten sie ihre Tochter Ayse, die acht Jahre alt war und Ömer, der elf Jahre alt war, nach Deutschland. Sie arbeitete und kümmerte sich herzlich um ihre neu zugezogenen Kinder, die erst einmal in die türkische Klasse kamen, um Deutsch zu lernen. Sie schien sich mit ihrem Schicksal abgefunden und arrangiert zu haben. Sie war eine gute Mutter und versuchte Ilyas eine einigermaßen gute Ehefrau zu sein.

Doch Ilyas kümmerte sich wenig um die Kinder. Er war kein guter Vater und obendrein fing er bald an während der Arbeitszeiten zu trinken, da alle Drahtzieher gerne mal bei der Hitze einen über ihren Durst tranken. Als er auch abends daheim zu trinken anfing und die Kinder ihm immer Bier beim Sparmarkt um die Ecke kaufen mussten, mehrten sich die Streitigkeiten zwischen dem Ehepaar. Melike wurde dabei oft ohnmächtig, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlte. Die hilflosen Kinder holten die Nachbarin, Tante Minüre, herbei, damit die Mutter wieder zu sich kam. Tante Minüre massierte ihre Brust mit Eau de Cologne und Melike kam zu Bewusstsein. Sie hielt es weiterhin schwer aus in dieser Ehe, dachte immer öfter daran, lieber tot als Ilyas` Frau zu sein. Sie konnte es aber der Kinder zuliebe nicht übers Herz bringen, Ilyas zu verlassen.

So kam es eines Abends zu einem heftigen Streit zwischen ihnen, weil Ilyas sehr betrunken war. Es ging wieder um das viele Geld, das Ilyas seiner Familie jeden Monat überwies. Melike war es leid, packte ihre drei Kinder und ein paar Kleidungsstücke zusammen und war gerade dabei, die Wohnung zu verlassen. Sie wollte in Köln bei Bekannten unterkommen. Ilyas folgte ihr ins Treppenhaus, um sie daran zu hindern, ihn zu verlassen. So kam es zu einem Handgemenge zwischen ihnen, bei dem er Melike packte und schüttelte. Er wollte sie zur Besinnung bringen. Doch mit der Absicht, sich zu befreien, schritt sie zurück und fiel rückwärts über Kopf die Treppen runter, vor den Augen ihrer drei Kinder. Sie kam erst ein Stockwerk tiefer zum liegen. Da lag sie, regungslos. Ilyas berührte sie und versuchte sie zu wecken, doch sie zeigte keine Regung. Im Schockzustand schaffte es Ilyas grade noch den Krankenwagen zu holen. Der Sanitäter stellte allerdings nur noch den Tod Melikes fest. Sie hatte einen Genickbruch erlitten.